Leseprobe "Ein Paradies, gebaut auf Sand"

Mai 1537, auf der Zapfenburg bei Kassel

 

Landgraf Philipp von Hessen erwartete Besuch, der ebenso hoch wie lästig war. Sein Schwiegervater, Herzog Georg von Sachsen, hatte sich mit seinem Hofstaat angedroht, und Philipp hatte seinen abgrundtiefen Groll, den er gegen den Alten hegte, hinuntergeschluckt und ihn auf die Zapfenburg eingeladen. Vom Turmfester aus versuchte Philipp den Herzog zu erspähen, doch keine ferne Staubwolke, keine aufflatternden Krähen kündigten die Reisenden an. Der Landgraf ließ seinen Blick über den Wald schweifen, hier und dort leuchtete ein wilder Kirschbaum weiß aus dem zarten Frühlingsgrün der Buchen hervor. Die Burg war der ideale Ausgangspunkt für Jagden aller Art. So hoffte der Landgraf einerseits, seinem Schwiegervater bei der Jagd aus dem Weg gehen zu können, andererseits fürchtete er, der Alte könnte ihm seine Lieblingsbeschäftigung vergällen.

Eine Jagd der ganz besonderen Art veranstaltete Herzog Georg gerade in Sachsen: Philipps Schwester Elisabeth, die im März ihren Witwensitz in  Rochlitz bezogen hatte, wollte dort selbstverständlich die Reformation einführen. Schließlich war sie wie Philipp selbst seit langem protestantisch, doch dies war dem katholischen Herzog von jeher ein Dorn im Auge gewesen. Unendliche Jahre hatten sie zugebracht im Kampf, sich gegenseitig zu überzeugen, dass ihre Lehre die allein seligmachende sei, aber wo so sture Köpfe aufeinander prallten, konnte es keinen Frieden geben.

Gerüchten zufolge beabsichtigte Herzog Georg, die Inquisition nach Rochlitz zu schicken, wie er es vor Jahren schon einmal getan hatte - offensichtlich wollte er um jeden Preis verhindern, dass das beschauliche Rochlitz der Reformation anheim fiel. Wenn sich diese Gerüchte bestätigten, dann wollte Philipp nicht zögern, seiner Schwester beizustehen, mitsamt all seinen verfügbaren Söldnern, denn noch eisiger konnte das Klima zwischen ihm und seinem Schwiegervater kaum werden. Zu viel war in den vergangenen Jahren zwischen ihnen geschehen.

„Und - sehen Sie meinen Vater schon?“ Christine war leise hinter ihn getreten und hatte ihm eine Hand auf die Schulter gelegt, doch Philipp entzog sich ihr unwillig.

„Ich weiß, Herr, Sie sind nicht erpicht darauf, meinen Vater zu sehen, aber bedenken Sie, er ist ein gebrochener Mann. Mein Bruder Friedrich und ich sind die letzten, die ihm von zehn Kindern geblieben sind. Dass auch noch sein Thronfolger Johann sterben musste, hat ihn vollends zerbrochen. Nun gibt es nur noch Friedrich, der in seiner ganz eigenen Welt lebt, den er nicht verheiraten kann und der erst recht nicht zur Regierung taugt. Bitte, seien Sie nachsichtig mit dem alten Mann.“

„Wie kann ich mit einem Mann nachsichtig sein, der selbst keine Nachsicht kennt? Soll ich zusehen, wie er das Glück meiner Schwester zerstört? Er bringt Elisabeth in Gefahr - nicht zum ersten Mal! Bedenken Sie, er wollte sie einmauern lassen! Meine Schwester! Seine eigene Schwiegertochter!“

Christine sah mit Sorge, dass Philipp sich jetzt schon in Rage redete. Wie sollte das nur werden, wenn Herzog Georg erst hier war?

„Wird Moritz denn auch mitkommen?“ versuchte sie die Gedanken ihres Ehemannes nun auf ein angenehmeres Thema zu lenken.

„Ja, unser kleiner Cousin wird sicher auch dabei sein. Wie alt ist er jetzt? Dreizehn? Vierzehn?“

„Er ist am 21. März sechzehn Jahre alt geworden. Wir haben ihn lange nicht gesehen, er wird sich sehr verändert haben.“

„Habt Ihr den Großvater schon gesehen?“ Die zehnjährige Agnes war mit ihrer Schwester Anna und dem kleinen Bruder Wilhelm ebenfalls im Turm erschienen. Die Eltern wechselten einen kurzen Blick. „Ah, Sie wissen schon, dass Ihr Großvater, seine Gnaden Herzog Georg, kommt?“

„Natürlich wissen wir das. Ihr redet ja seit Tagen von nichts anderem“, verkündete der vierjährige Wilhelm, worauf Christine kurz und heftig die Luft einzog. Hoffentlich hatten die Kinder nicht zu viel mitbekommen. 

„Ja, und wir werden auf die Jagd gehen, und ich werde mit Moritz das Kämpfen üben. Das habe ich ihm versprochen, als er nicht viel älter war als Sie, mein Kleiner!“ Philipp hatte seinen ältesten Sohn auf den Arm genommen und wirbelte mit ihm durch das Turmzimmer. „Dabei dürft ihr alle zusehen.“

„Ich mag dabei nicht zusehen. Das ist mir zu laut und zu wild!“ sagte Agnes.

„Ich mag auch nicht beim Kämpfen zusehen“, echote nun natürlich auch Anna und drückte ihre Puppe an sich.

„Das sollten Sie aber, liebe Agnes, denn es wäre sehr unhöflich, dem Turnier fernzubleiben. Außerdem werden Sie in wenigen Jahren einen Ritter heiraten; da ist es ratsam, sich schon einmal an den Anblick zu gewöhnen“, sagte Philipp. Dass er diesen Ritter bereits in Braunschweig ausgesucht hatte, verriet er seiner Tochter jedoch nicht.

 

Es dauerte keine zwei Stunden mehr und der Besuch war in Sicht. Ein langer Zug aus Pferden, Wagen und Fußsoldaten kam den steilen Berg herauf. Die Peitschen knallten, als die Pferde die ungewöhnliche Steigung kaum bewältigten, Soldaten sprangen herzu, schoben einige der Wagen von hinten an, und schließlich standen alle wohlbehalten und erschöpft im Innenhof der Burg.

Auf der Treppe stand die fürstliche Familie zum Empfang bereit: Landgraf Philipp, seine Gemahlin Christine, dann die Kinder, aufgereiht nach Alter: Agnes, Anna, Wilhelm und schließlich die Amme, die die einjährige Barbara auf dem Arm hielt. Christines Hofdamen hielten sich im Hintergrund.

Vom Pferd stieg nicht der stolze Herzog Georg, der in einigen Schlachten seine Armee befehligt hatte, sondern ein Greis, der sich vergeblich bemühte, seine Hinfälligkeit zu verbergen. Christine eilte ihm entgegen, als er mit der Hilfe Moritzens und eines Priesters auf dem Pflaster des Schlosshofes stand.

„Vater!“ Christine hatte ihn lange nicht gesehen und war nun erschrocken bei seinem Anblick. Moritz reichte ihm seinen Stock, auf den er die Last seiner Jahre stützte. Christine wollte ihrem Vater den Arm reichen, doch da ergriff der alte Herzog mit der anderen Hand den Arm seines Priester und ließ sich von ihm die Treppe hinaufführen, dicht gefolgt von Moritz und Christine. Bei diesem Anblick verfinsterte sich Philipps Gesicht bereits erheblich, und Christine begrub die Hoffnung auf friedliche Tage.

„Euer Gnaden!“ Philipp reichte seinem Schwiegervater die Hand, wobei er feststellte, dass der Händedruck des Alten noch immer kräftig war. Sein Bart reichte ihm mittlerweile bis über die Brust.

Dann fiel sein Blick auf die Enkelkinder, die gehorsam knicksten und sich verneigten, wie Christine es ihnen beigebracht hatte. Mit großen Augen schauten sie ihren Großvater und den Priester an. Letzterer übte sich in stoischem Schweigen, grüßte niemanden und wurde geflissentlich übersehen.

„Und wie ich höre, haben Sie auch einem weiteren Sohn das Leben geschenkt?“

„Ja, Vater“, erwiderte Christine. „Der kleine Ludwig ist mit seiner Amme in Kassel geblieben, aber ich wollte es mir nicht nehmen lassen, Euch zu treffen.“

„Braves Mädchen!“ sagte der Alte, was wohl die höchste Auszeichnung war, die er einer Frau zuteil werden ließ.

„Herzog Moritz, seid uns willkommen. Wir freuen uns sehr, Euch zu sehen“. Landgraf Philipp nahm seinen jungen Cousin in Augenschein. Moritz war in der Zwischenzeit zwar deutlich gewachsen, aber hatte an Kraft offenbar kaum zugenommen, denn er war schlaksig und schien nicht genau zu wissen, was er mit seinen langen Gliedmaßen anfangen sollte. Seine Haut war sehr hell - Philipp schloss daraus, dass er mit dem alten Herzog mehr Zeit als ihm lieb war in der Schreibstube verbracht hatte, um sich in eine gewissenhafte Verwaltung einzuarbeiten. Rötliches Haar fiel ihm lockig über die Schultern und bildete wenig Kontrast zu seiner Haut und den hellblauen Augen, die sehr kühl auf die Welt zu blicken schienen. Oder war es Verträumtheit? Nun - Philipp wollte seine Aufmerksamkeit schon fesseln!

„Der Wald quillt nur so über von Wild. Ich hoffe, Ihr werdet mir helfen, ein paar Hirsche zu schießen“, sagte er mit einem Zwinkern, was Moritzens Augen tatsächlich aufleuchten ließ. Sicher war er auch stolz, dass der Landgraf ihn mit „Ihr“ angesprochen hatte, anstatt ihn zu siezen, wie man es mit Kindern und niedrigen Dienern tat; wie es aber auch zwischen Eheleuten üblich war.

„Ich danke Euer Gnaden für die freundliche Einladung und werde mein Bestes geben.“

Philipp lächelte, denn offensichtlich sah Moritz in ihm noch immer ein großes Vorbild, wie damals vor vielen Jahren bei einer Hochzeit in Torgau, als er dem Kleinen versprechen musste, ihn zum Ritter auszubilden und ihm das Kämpfen beizubringen. Aus dem kleinen Jungen war nun ein Jüngling geworden, doch sein brennender Eifer und seine Bewunderung für Philipp waren geblieben.

„Nun kommt alle herein. Ihr seid sicher müde und hungrig von der langen Reise. Wo seid Ihr heute früh aufgebrochen?“ fragte Christine, indem sie mit einer Geste die beiden Herzöge mit ihren Leibdienern ins Innere des Schlosses bat. Unterdessen schafften die Knechte das Gepäck der Herren über einen Seiteneingang ins Schloss; anschließend würden sie sich ihre Schlafplätze im Gesindehaus und in den Marställen suchen. 

„Ein prächtiges Jagdschloss habt Ihr, das muss ich Euch lassen!“ sagte der Alte, indem er sich mit Hilfe seines Stockes ein wenig aufrichtete und sich in der Eingangshalle umschaute.

„Ja, wir haben das Schloss wieder aufgebaut und mit allem Komfort ausgestattet, den unsere Handwerker zu bieten haben. Im Winter wärt Ihr sicher begeistert von den Kaminöfen - kalt sind sie immerhin eine Augenweide.“ Philipp war sichtlich stolz auf sein Schloss.

„Vater, bitte hier entlang. Ich bringe Euch selbst in Eure Gemächer. Dann könnt Ihr für einen Augenblick ausruhen; dort steht auch eine Kleinigkeit zur Stärkung, bevor wir um vier Uhr alle zusammenkommen und im großen Saal gemeinsam speisen.“

 

Es war noch früh am Abend, als Philipp und Christine allein am Feuer saßen. Christines Hofdamen und auch Philipps Diener hatten bereits die Erlaubnis erhalten, sich zurückzuziehen, die Amme hatte die Kinder längst ins Bett gebracht, sogar Agnes war gehorsam aufgestanden und der Amme gefolgt, auch wenn sie ganz offensichtlich gerne noch länger bei den Erwachsenen geblieben wäre und sich mit ihren elf Jahren nicht mehr zu den Kindern zählte. Auch Moritz, der alte Herzog und der Priester hatten sich bald zurückgezogen - schließlich war die Reise anstrengend genug gewesen. Vorsichtig beobachtete  Christine ihren Gemahl, der mit verbissenem Gesicht ins Feuer starrte. Der Abend war kühl, Philipps Stimmung dagegen hitziger denn je.

„Es ist doch sehr schön, dass Moritz hier ist. Ich bin sicher, Sie werden morgen bei der Jagd viel Freude mit dem Jungen haben.“

„Auf den Priester hätte ich allerdings verzichten können. Wie kann er es wagen, uns einen katholischen Priester ins Haus zu bringen? Dass er auch noch geglaubt hat, ich würde erlauben, dass dieser Mann an meiner Tafel das Tischgebet spricht! Er hat immer wieder davon gesprochen, dass er die Kinderschuhe ausgetan hätte, wenn wir ihm vorsichtige Ratschläge erteilen wollten, aber er kann nicht erkennen, dass wir auch nicht mehr in Kinderschuhen gehen. - Danke, dass Sie die Wogen geglättet haben, Herrin“, sagte Philipp dann etwas ruhiger. Tatsächlich hatte Christine dafür gesorgt, dass kein Streit ausgebrochen war, und so hatte man das Mahl eingenommen, ohne das leidige Thema der Religion auch nur zu streifen. Glücklicherweise hatte sich auch der Priester zurückgehalten, sodass eine Stimmung herrschte, als stehe mitten auf der Tafel ein riesiger Hirsch, den keiner übersehen kann, den aber trotzdem niemand mit einem einzigen Wort erwähnt. Selbst der Narr war in eine Ecke verbannt worden und hatte geschwiegen.

„Ach, Herr, es ist doch kaum noch etwas übrig von meinem Vater, was zu bekämpfen sich lohnen würde.“

„Er hat noch immer Räte bei sich, die ihm altgläubigen Unsinn einblasen und ihn aufhetzen gegen meine Schwester. Er soll nicht wagen, sie zu bedrängen.“

„Wie sollte er sie denn bedrängen? Er ist der letzte Fürst in Sachsen, der noch katholisch ist. Er weiß genau, was er sich erlauben kann und was nicht. - Was man von Ihnen, lieber Gemahl, nicht behaupten kann“, fügte Christine in Gedanken hinzu, als Philipp sich wortlos erhob und davonging. Sie wusste nur zu gut, wo er hinwollte, denn noch am kommenden Morgen würde er nach Schenke riechen, nach Wein und Bier und liederlichen Frauen.

Kurz darauf hörte sie die Hufe seines Pferdes auf dem Pflaster und hoffte inständig, dass ihr Vater es nicht bemerkt hatte und keine Fragen stellen würde, doch der alte Herzog hatte am Fenster gestanden und gesehen, wie sein Schwiegersohn davongeritten war. Herzog Georg lehnte jegliche Hilfe ab und machte sich allein auf den Weg zu seiner Tochter - und er hatte einige Fragen!

Sie hörte seine Schritte und das tap tap seines Stockes schon auf der Treppe. Mit einer fahrigen Geste rieb sie ihr Gesicht und fühlte dabei, dass sich Tränen hervorgestohlen hatten. Nein, ihr Vater sollte nichts merken!

„Christine!“ Ein gebückter, schwarzer Schatten stand in der Tür.

„Vater! Ich dachte, Ihr schlaft schon längst. Seid Ihr denn nicht vollkommen erschöpft von der langen Reise?“ Christine hatte sich erhoben und war ihm entgegengegangen, um ihn zu dem Stuhl zu führen, den Philipp eben verlassen hatte.

„Ach, mein Kind, der Schlaf flieht mich. Im Alter muss man nicht mehr so viel schlafen - ganz so als wüsste der Leib, dass er in der Gruft noch genug schlafen kann.“

„Vater, bitte sprecht nicht so! Ich bin so glücklich, Euch zu sehen und endlich wieder einmal bei mir zu haben.“ Mit einem Seufzer ließ er sich in den Lehnstuhl fallen und stützte seine Hände auf den Stock, den er vor sich hingestellt hatte. Im Schein des Feuers konnte Christine erkennen, wie sehr auch die Hände ihres Vaters gealtert waren.

„Diese Freude teilt Ihr Gemahl nicht. - Und sagen Sie mir jetzt bitte nicht, dass er nur nicht zeigen kann, wie sehr er sich freut!“ sagte der Alte, als Christine schon zu einem leisen Widerspruch angesetzt hatte. „Ich mache mir Sorgen, mein Kind.“

„Vater, ich bitte Euch, Ihr müsst Euch wirklich keine Sorgen machen, nur weil wir lutherisch sind. Wir haben unser Seelenheil nicht verspielt und Ihr müsst uns nicht retten.“ Am Klang ihrer Stimme konnte man eindeutig erkennen, dass sie diesen Satz ihrem Vater beileibe nicht zum ersten Mal sagte.

„Das sind meine geringsten Sorgen, Kind. Ich sorge mich um Ihre Gesundheit. Der Lebenswandel Ihres Gemahls ist kein Geheimnis. Wahrscheinlich hat er die Franzosenkrankheit“, knurrte der Alte verächtlich.

„Ja, Vater, ich weiß das alles...“

„ Ist er denn in Behandlung?“

„Nun ja, er hat einen Leibarzt, aber er konnte ihm bisher nicht wirklich helfen.“

„Ich will nicht, dass er Sie ansteckt! Das sind meine Sorgen. Warum hat er nicht eine Mätresse - oder meinetwegen auch zwei oder drei - wie jeder anständige Fürst? Wieso muss er sich immer wieder in jeder Stadt, in der ein Reichstag stattfindet, mit jeder Hure vergnügen, die ihm über den Weg läuft? Was ist mit dem Personal, mit der Dienerschaft? Die lässt er ja auch nicht in Frieden. Ich kann Ihnen nicht sagen, wie sehr ich es bereue, diesem Mann meine Tochter gegeben zu haben.“

„Vater, Ihr quält mich!“ flüsterte Christine, doch der Alte hatte sie nicht gehört und fuhr fort: „Meine Lieblingstochter! Sie waren immer meine Lieblingstochter.“

„Ach, Vater!“ Christine legte ihre Hand auf die Hände ihres Vaters. „Das sind auch meine Sorgen. Ich habe auch Angst, dass er mich ansteckt. Nun ist ja wieder ein Sohn geboren - da wird er mich vorerst verschonen.“

„Wenn er Sie ansteckt, dann wir er sich nicht nur vor mir verantworten müssen, sondern auch vor Gott.  - Ist es wahr, dass er schon seit Jahren nicht mehr beim Abendmahl war?“

Christine sah ihren Vater nicht an, als sie kaum merklich nickte.

„Wegen seiner Hurerei?“ Herzog Georg meinte es gut, wenn es auch nicht gerade einfühlsam war, wie er nun seinen Stock auf den Boden aufstieß. Wieder gelang Christine nur ein Nicken.

„Du liebe Güte! Da lob ich es mir doch, katholisch zu sein. Man geht beichten, und die Welt ist wieder in Ordnung, aber ihr Lutheraner habt immer gleich den Weltuntergang.“

„Vater, bitte, lasst uns nicht streiten!“

„Ich streite doch gar nicht. Ich sage nur, was ich denke, und ich frage nach den Dingen, die ich gerne wissen möchte. Das kann man einem alten Mann nicht verdenken. Und Philipps Schwester Elisabeth? Wie steht es mit ihr? Sie will auf ihrem Witwensitz in Rochlitz die Reformation einführen, damit alle die Predigten auf deutsch hören und womöglich die Bibel auf deutsch lesen.“

„Aber Vater, es ist doch nicht verwerflich, wenn man den Menschen in ihrer Sprache das Wort Gottes verkündet. Sie sollen es doch verstehen.“

„Sind Sie sicher, dass jeder es verstehen wird? Ich halte es nicht für richtig, wenn jeder Narr die Bibel lesen und sich seinen eigenen Reim darauf machen kann. Aber dem werde ich einen Riegel vorschieben, denn wohin das führt, haben Wir in den Bauernkriegen gesehen.“

 

(...)

 

Hier ist eine weitere Leseprobe aus der Zeit des Schmalkaldischen Krieges:

 

Rochlitz, 1. Januar 1547

 

Elisabeth war hinunter in die Kanzlei gegangen und saß dort mit ihren Räten und Schreibern am Kamin. Frau Gundel hatte sie mit heißem Wein und süßem Gebäck versorgt; man hätte meinen können, es sei eine gemütliche Runde, doch die Mienen aller waren sehr ernst und kaum einer wagte, sich an den Köstlichkeiten zu bedienen. Neben Hofmarschall Heinrich von Bünau standen nun auch Sigmund Kirchmeyer und Joseph Engelschall als Räte in Elisabeths Diensten.

Ein Brief lag offen auf dem Tisch, alle starrten darauf, als sei er Gift.

„Nun, meine Herren, lasst uns zusammentragen, was wir im Moment über die Lage wissen“, sagte Elisabeth leise und schaute die Männer an. „Der Kurfürst ist aus dem Süden zurückgekehrt und hat sich weite Teile seines Landes zurückerobert. Heute erfahren wir“, sie deutete auf den Brief, „dass Moritz seine Stadt Leipzig zum Schutz besetzt hält; die Vorstädte und auch einige Dörfer im Umkreis hat er niedergebrannt, um eine Belagerung zu erschweren, denn belagern wird der Kurfürst eine so wichtige Stadt sehr bald; das steht außer Zweifel. So viele Truppen stehen Moritz nicht zur Verfügung, dass er sein ganzes Land schützen könnte, er muss sich auf ein Weniges beschränken. Neben Dresden ist ihm Leipzig am wichtigsten.“

„Herzog Moritz hat in Leipzig zwar das Kriegsrecht ausgerufen und auf dem Marktplatz einen Galgen aufgestellt, aber in erster Linie geht er wohl hart vor bei Übergriffen seiner Truppen gegen die Leipziger Bevölkerung“, berichtete Kirchmeyer. 

„Immerhin lässt uns dies ein wenig hoffen, dass die Bevölkerung nicht allzu sehr leiden muss. Aber wahrscheinlich ist der Schaden, den Moritz dort angerichtet hat, größer als der Schaden, den der Kurfürst in ganz Thüringen hinterlassen hat. Was wissen wir von den Bürgern selbst? Leisten sie ihm Widerstand?“ fragte Bünau.

„Davon weiß man nichts. In der Stadt lagern immerhin dreitausend Kriegsknechte und einhundert berittene Söldner. Da würde ich es mir als Bürger gut überlegen, ob ich Widerstand leisten will. Man weiß nicht, wie das ausgehen wird. Ich denke, keiner will hinterher auf der Seite des Verlierers stehen“, erwiderte Kirchmeyer.

„Aber“, gab Engelschall zu bedenken und hob dabei den Zeigefinger, „ein so großes Heer zu unterhalten ist teuer. Wahrscheinlich werden die Leipziger nicht gerne ihr Geld herausgeben, um die Söldner zu bezahlen, die ihre eigene Stadt besetzt halten. Das hieße die Flöhe bezahlen, die einen beißen.“

„Wenn mich nicht alles täuscht, so lagert in Leipzig der größte Teil des Merseburger Domschatzes. Merseburg wird gerade von Truppen des Kurfürsten besetzt gehalten. Der junge Herzog ist nicht dumm; wenn er das Silber des Merseburger Domkapitels zu Münzen prägt, hat er zufriedene Söldner und zufriedene Leipziger. Um die Herren des Merseburger Doms kann er sich später kümmern. Notfalls werden sie mit Fuggergeld entschädigt, aber wenn er es geschickt anstellt, kann er den Zorn der Domherren auf den Kurfürsten lenken.“

Elisabeth seufzte schwer auf. „Moritz bietet mir an, dass er mit meinem Bruder einen Sonderfrieden schließt, doch davon will ich nichts wissen.“

„Euer Gnaden, erlaubt Ihr, dass ich frage, wie dieser Sonderfrieden aussehen sollte?“

„Sicher, Engelschall. Moritz hatte meinem Bruder vorgeschlagen, dass dieser sich vor dem Kaiser demütigen solle, um so dessen Gunst wiederzuerlangen. Außerdem sollte er den Schmalkaldischen Bund auflösen und Herzog Heinrich von Braunschweig wieder in seine alten Rechte einsetzen. Seine Religion dürfte mein Bruder behalten, aber all die anderen Punkte sind die reine Zumutung für ihn. Das muss ich sicher nicht betonen. Außerdem denke ich, dass wir den Schmalkaldischen Bund nicht noch weiter aufspalten dürfen. Mein Bruder ist schon misstrauisch und befürchtet, Moritz könne auch dem Kurfürsten einen Sonderfrieden anbieten, aber davon würde ich sicher erfahren und auch dies verhindern. Was wissen wir vom Kurfürsten?“

„Der Kurfürst selbst liegt mit dem größten Teil seiner Truppen in Halle“, sagte Engelschall. „Viele seiner Männer sind krank; sie brauchen Ruhe und die Sicherheit einer Stadt. Er kann sie nicht im freien Feld lagern lassen zu dieser Jahreszeit, sonst verliert er zu viele Männer an die Kälte.“

„Moritz sitzt in Leipzig lange gut. Für die Soldaten des Kurfürsten kann ich nur hoffen, dass er so bald keine Belagerung beginnt. - Es ist ein solcher Irrsinn!“ Elisabeth legte ihre Hand über die Augen, als wolle sie Tränen verbergen. Diesen Moment nutzte Kirchmeyer, um ein Stückchen Kuchen vom Teller zu nehmen und in den Mund zu schieben. Doch dann nahm Elisabeth plötzlich ihre Hand vom Gesicht und fragte: „Und nun zu unserer heikelsten Angelegenheit: Habt Ihr die Geheimschrift entwickelt?“

„Ja, Euer Gnaden“, sagte Engelschall; Kirchmeyer nickte dazu mit vollen Backen.

„Oh, bitte bedient Euch doch alle“, sagte Elisabeth zu seiner Erleichterung. „Nur weil demnächst vielleicht die kurfürstlichen Soldaten hungern und frieren müssen, müssen wir das nicht auch tun.“

Alle griffen zu, als hätten sie auf eine ausdrückliche Aufforderung Elisabeths gewartet.

„Ich will auch mit Moritz in Kontakt bleiben. Aber Abschriften der eingehenden Post bekommt er nicht mehr zugeschickt. Die Zeiten sind vorbei. Er hat mich zu sehr hintergangen, als dass ich ihm noch so weit vertrauen könnte.“ Da konnte sie plötzlich ihre Tränen nicht mehr zurückhalten. „Mein Moritz! Wie kann er sich nur so schmählich vor den Karren des Kaisers spannen lassen und gegen seinen eigenen Cousin die Reichsacht vollstrecken? Es fehlt nur noch, dass er auch gegen seinen eigenen Schwiegervater vorgeht oder gegen mich.“ Die Männer schwiegen betreten, nur Bünau legte ganz sachte seine Hand auf ihre Schulter und reichte ihr ein Glas Wein.

„Bitte, Euer Gnaden! Ich bin sicher, dass er sich niemals direkt gegen Euch richten wird. Er ist sehr jung und hat schon viele schlechte Erfahrungen gemacht; und zu den schlechten Erfahrungen kommen schlechte Berater. Daraus kann nichts Gutes entstehen.“

„Bünau, es ist sehr freundlich von Euch, dass Ihr mich trösten wollt, doch müssen wir realistisch bleiben. Wir dürfen jetzt nichts riskieren, denn sonst könnten wir alles verlieren. Ich will heute gleich in der neuen Geheimschrift an meinen Bruder schreiben. Alles Geld, was ich zur Verfügung habe und entbehren kann, will ich ihm schon zusagen.“ Sie wischte sich die Augen, setzte sich in ihrem Sessel auf und sagte: „Ich werde auch dem Bruder des Kurfürsten schreiben, denn wir brauchen zwei Geheimschriften. Engelschall und Kirchmeyer, Ihr werdet Euch jeweils mit ausschließlich einer Geheimschrift beschäftigen. Nur für den Fall der Fälle. Falls wir tatsächlich überfallen werden, oder einer von Ihnen entführt wird, dann weiß er nicht alles.“

Die Männer wurden bleich und sahen zu Boden. Es stand wirklich mehr als ernst, und sie begaben sich mit ihrer Korrespondenz in Gefahr. Der Gegner würde ihnen die Briefe als Hochverrat auslegen. Darauf standen schwere Strafen. Elisabeth spürte die Angst, die über ihnen allen hing.

„Wenn es so weit kommen sollte, dann sagt Ihr einfach, ich hätte Euch dazu gezwungen.“

„Euer Gnaden, wenn Ihr erlaubt - so weit werden wir es nicht kommen lassen“, sagte Bünau, worauf Engelschall und Kirchmeyer nickten.

Elisabeth erhob sich und sagte: „An die Arbeit! Ich will mich gleich vertraut machen mit den Schriften.“

Engelschall überreichte ihr ein Blatt, auf dem das lateinische Alphabet verzeichnet war; hinter jedem Buchstaben stand ein Zeichen, das den Buchstaben ersetzte.

Das a war ein Viereck mit einem Punkt, das b sah aus wie ein x, hatte aber nach oben verlängerte Linien; das ch war zu einem ds geworden; und so ging es fort bis zum z. Es folgten Symbole für die wichtigsten Personen.

Elisabeth setzte sich und nahm die Feder zur Hand. Es war mühsam, bei jedem einzelnen Buchstaben nachzuschauen, wie er geschrieben werden musste, ganz so, als lerne sie das Schreiben noch einmal neu, doch nach einer Weile erinnerte sie sich, und bald schrieb sie die neue Schrift recht flüssig. Um das Entziffern zu erschweren, schrieb sie ohne Punkt und Komma.