Imelda Arran - Ein Sommer für Jane Dawson

 

»Wo ist nur wieder dieses Kind?« rief Bischof Dawson. Mit ›diesem Kind‹ meinte er seine Tochter Jane, die bereits vierundzwanzig Jahre alt war und ihm keinerlei Freude bereitete. Er stand auf der Freitreppe, die hinunter in den weitläufigen Garten führte. Dabei hatte er seine Fäuste in die Hüften gestemmt und bot ganz das Bild eines geplagten Vaters. Jane hatte ihren Vater durchaus gehört, zog es aber vor, sich noch tiefer in ihr Buch zu vergraben. Sie lag an ihrem Lieblingsplatz zwischen den Holundersträuchern, deren Blüten ihren intensiven Frühsommer-Duft verströmten; ihr dunkelgrünes Kleid hatte sie mit weiser Voraussicht gewählt, denn so war sie beinahe unsichtbar. Sie las Utopia - ein Werk, das wie geschaffen war, sich in eine ferne Welt zu träumen - auf diese Insel, auf der alle Menschen gleich waren und freundlich miteinander umgingen. So vertieft war sie in ihr Buch, dass sie nicht merkte, wie ihr Vater leise durch den Garten schlich und sich ihrem Lieblingsplatz näherte. 

»Warum geben Sie keine Antwort, wenn ich Sie rufe?« herrschte ihr Vater sie an. Erschrocken klappte sie das Buch zu und erhob sich. Dabei versuchte sie, das Buch hinter ihrem Rücken zu verbergen, doch dem alles erspähenden Blick ihres Vaters war weder das Buch noch der Titel entgangen. 

»Und hatte ich Ihnen nicht untersagt, diesen Katholiken zu lesen? Was soll das? Er wurde hingerichtet wegen Hochverrats. Das darf keine Lektüre für eine gute Engländerin sein.« Jane hatte keine Wahl, sie musste das Buch ausliefern. »Woher haben Sie diesen Schund überhaupt?«

Jane machte eine vage Handbewegung und gab ein noch vageres Geräusch von sich. 

»Woher! Antworten Sie!« Bischof Dawson war kurz davor, das Jüngste Gericht einzuberufen. 

»Ich hab es im Buchladen in Huntington Town gekauft.«

»Woher hatten Sie das Geld? - Ach, Sie müssen es mir nicht sagen. Ich weiß schon, dass Ihre Mutter Ihnen Geld für Stoff gegeben hat und Sie es für dieses Buch ausgegeben haben.«

Janes Miene war die Bestätigung dieser Vermutung. »Ganz gleich, was ich mir an Stoffen gekauft hätte, Sie wären niemals damit einverstanden gewesen und hätten mir ohnehin verboten, sie zu tragen«, stellte Jane klar. »Immer muss ich dieses dunkle Zeug tragen, als ginge ich zu einer Beerdigung.«

»Kommen Sie jetzt! Mrs. Aubrey muss Sie noch herrichten für den Ball heute Abend.«

»Aber Vater, bis dahin sind es sicher noch vier Stunden!« wagte Jane zu protestieren.

»Diese Zeit wird sie mindestens benötigen - so wie Sie aussehen. Lady Lydia wird auch da sein. Neben ihr wollen Sie nicht vollkommen abfallen. Los jetzt!«

»Neben Lady Lydia sehe ich immer aus wie eine graue Maus, ganz gleich, wie lange Mrs. Aubrey an mir herumfuchtelt.«

»Dann werden Sie wieder eine gute Gelegenheit haben, sich in christlicher Demut zu üben. Sie müssen sich nicht bemühen, nett auszusehen, denn Ihr Weg ist vorgezeichnet. Und setzen Sie schön Ihre Brille auf, damit niemand auf die Idee kommt Sie für eine hübsche Frau zu halten«, fügte er hinzu. Sie musste sich beeilen, wollte sie mit den schnellen Schritten ihres Vaters mithalten.

»Es gibt auch schöne Brillen, Vater. Brillen für Frauen. Ich laufe höchst unfreiwillig mit diesem alten Gelehrtengestell herum. Wenn Sie sich die Mühe machen würden, mir eine hübsche Brille zu kaufen, dann würde ich wesentlich besser aussehen und würde beim Tanzen keine ganz so armselige Figur machen.«

Jetzt blieb der Bischof stehen und schaute seine Tochter gerade an. »Mäßigen Sie sich und Ihre allzu weltlichen Triebe! Aus purer Eitelkeit wollen Sie eine andere Brille, die mich ein Vermögen kosten wird. Sie werden schön Ihre Brille aufbehalten, damit jeder Sie für einen langweiligen Bücherwurm hält - was Sie tatsächlich sind.«

»Fürs Lesen brauche ich die Brille gar nicht, sondern nur für die Ferne, Vater. Meine Brille wäre ergo ein Zeichen für Weitsicht, Weltoffenheit« sagte sie in belehrendem Ton ›und Abenteuerlust‹ fügte sie in Gedanken hinzu. »Wieso können wir nicht einmal eine Reise unternehmen? Und wenn es nur nach Bath ist. Ans Meer. Die Seeluft würde Mutter sicher guttun. Außerdem könnten wir dort mal ins Theater gehen.«

Ein Schmetterling flatterte zwischen ihnen hindurch. Jane strahlte bei diesem Anblick auf, doch ihr Vater verscheuchte das Tier mit einer heftigen Handbewegung. 

»Das ist nun der Gipfel der Bösartigkeit!« rief ihr Vater, als er sich wieder von ihr abwandte, um seinen Weg fortzusetzen. Jane wusste genau, was jetzt kam und äffte ihren Vater leise nach. »So viel Egoismus! Die arme Mutter vorzuschieben, um sich selbst eine Vergnügungsreise zu ergaunern. Das zeugt nicht von christlicher Bescheidenheit! Ihre Aufsässigkeit ist mir zuwider! Nehmen Sie sich ein Beispiel an Lady Lydia Lowland. Und Ihr Ansinnen, ins Theater zu gehen, wundert mich. Sie sollten wissen, dass das Theater vollkommen verwerflich ist. Stellen Sie sich vor, Jesus Christus kommt in all seiner Herrlichkeit wieder und Sie sind gerade im Theater.«

»Vater eine Theatervorstellung dauert keine drei Stunden, inklusive Pause. Ich hoffe darauf, dass sich unser Herr Jesus Christus für seine Wiederkehr mehr Zeit nimmt als ein Theaterabend in Anspruch nimmt.« Die Miene des Bischofs verfinsterte sich bedrohlich, aber Jane ließ sich nicht beeindrucken, sondern fuhr fort: »Und wollen Sie mir nicht noch vorwerfen, dass ich kein Junge bin? Das kommt nämlich üblicherweise auch in diesem Zusammenhang. Ich hoffe, Sie wollen mich nicht enttäuschen.« Sie liebte es, sich für die ewigen Demütigungen mit diesen Spitzen schadlos zu halten.

»Ich Sie enttäuschen?« wütete er. »Sie sind eine einzige Enttäuschung für mich. Wenn Sie schon kein Junge sind, könnten Sie wenigstens ein hübsches Mädchen sein - wie Lady Lydia. Aber nein, Sie haben die einfachen Gesichtszüge Ihrer Mutter geerbt. Und so schlicht wie Sie aussehen, wollen Sie ins Theater? Man würde Sie nur auslachen.«

»Eine hübsche Brille könnte einiges verbessern«, beharrte Jane. »Oder Kleider aus hellen Stoffen, in denen man mich auf den ersten Blick von meiner Mutter, Großmutter und Urgroßmutter unterscheiden könnte.«

Der Bischof gab ein resigniertes Knurren von sich. »Bald ist Schluss! Bald habe ich Sie aus dem Haus. Dies wird übrigens Ihr letzter Ball sein, genießen Sie ihn also.«

»Vater, wovon reden Sie? Wieso soll ich fort?« In Janes Stimme mischten sich die Hoffnung auf ein Entkommen aus dem Dunstkreis ihres Vaters und die Furcht vor dem, was ihr Vater für sie geplant hatte. Und das war sicher kein Leben in Freiheit an einem schönen Ort, an dem Jane Gefahr lief, freundlichen Menschen zu begegnen. 

»Im August wird eine Stelle frei, wie ich sie schon lange für Sie vorgesehen hatte. Lady Churchill ist eine alte, sieche Dame, die eine Gesellschafterin sucht. Die Frau, die im Moment bei ihr ist, wird im August zu ihrer Familie zurückkehren, weil sie dort als Gouvernante für eine Nichte gebraucht wird. Dann werden Sie ihren Platz übernehmen.«

Jane stockte der Atem. Wie sehr hatte sie ihren Vater um eine Stelle angebettelt, wo sie sich um Kinder kümmern könnte. Sie hätte wissen müssen, dass ihr Vater alles daransetzen würde, ihr genau das nicht zu gönnen, um weiter ihre christliche Demut zu schulen. Jane ging seit Jahren durch eine harte Schule. Nicht nur, dass ihr Vater ihr ständig Gelegenheit gab, sich in Demut zu üben, nein, er hatte auch Mrs. Aubrey und Lady Lydia dazu angehalten, Jane immer wieder auf ihren Platz zu verweisen, den er ziemlich weit unten sah. 

»Ich erwarte, dass Sie sich freuen!« sagte er in einem sehr bestimmten Tonfall, der keinerlei Widerrede duldete. Da Janes Gesicht blankes Entsetzen zeigte, erging er sich in den üblichen Reden: »Ich blicke auf eine lange Reihe von Vorvätern zurück, die alle im Dienst der Kirche waren. Alle waren mindestens Reverends, nur wenige haben es geschafft, sogar in den Stand eines Bischofs aufzusteigen. Ich hatte immer - schon als junger Mann - gehofft, dass ich diese Tradition fortführen würde. Aber nein, Ihre Mutter hat sechs Kinder zur Welt gebracht, von denen fünf gestorben sind. Alle anderen waren Jungs. Ausgerechnet Sie mussten überleben.«

»Es ist nicht meine Schuld, Vater. Sie hätten mich im Wald aussetzen können.« Sie hob dabei lediglich die Schultern, als teile sie ihm mit, dass der Tee leider aus sei. 

Der Bischof knurrte etwas, das wie ein Bedauern klang.

»Für den Fall, dass Sie diese Stelle nicht annehmen möchten, hat Mrs. Aubrey einen weiteren Heiratskandidaten für Sie ausgesucht.«

Jane stöhnte innerlich auf. »Und wie alt ist diesmal der Glückliche? Ist er unter Hundert? Wie viele Holzbeine hat er?« Es kostete sie unendliche Mühe, ihre Hände in die Taille zu stemmen und ihren Vater gleichmütig anzusehen. Sie ahnte, dass dieser Heiratskandidat und die Stelle die Wahl zwischen Pest und Cholera darstellte. 

»Oh, wenn er Ihnen nicht recht ist, dann fahren Sie eben zu Lady Churchill«, rief ihr Vater mit großartiger Geste, als lege er ihr die Welt zu Füßen. 

»Vater, das ist übrigens nicht der Weg zum Haus. Ich dachte, Sie wollten...«

»Wollen Sie mir jetzt auch noch vorschreiben, welchen Weg ich zu gehen habe? Sie werden gleich sehen, weshalb ich diesen Weg durch den hinteren Teil des Gartens gewählt habe. Sehen Sie! Da ist der Komposthaufen. Und auf diesen Haufen werfe ich jetzt Ihr Buch.« Er tat es tatsächlich. 

 

»Bücher zu vernichten zeugt nicht von Weisheit«, sagte Jane ruhig und wandte sich zum Gehen. Der Vater sah ihr mit geballten Fäusten nach. Was er in seinem Ärger nicht bemerkte, war ein Mann, der sich zur Erde gekauert hatte, als der Bischof mit seiner Tochter näher gekommen war. Dieser Mann nahm nicht nur die Gemüseabfälle, sondern auch das Buch an sich und stahl sich mit seinen Schätzen davon.