Chateau de Valmont, Normandie, Anfang August 1789
„Paulette, Paulette! Ich wünsche eine heiße Schokolade. Ich kann nicht schlafen.“
Noch vor wenigen Wochen hätte Paulette sich geärgert über solche nächtlichen Wünsche, doch heute lag ein Lächeln auf ihren Lippen. Sie hatte etwas gehört! Wenn das wahr sein könnte! In Paris hatte man die Revolution ausgerufen und in Versailles hatte man den Palast des Königs gestürmt. Es würde nicht mehr lange dauern, dann könnte sie hier in der Normandie einfach durchschlafen - in seidenen Laken.
Während Paulette in die Küche ging, um das Verlangte zu besorgen, ließ sich Madeleine zurück in ihre Kissen fallen. Es war mitten in der Nacht, die Turmuhr hatte zwei Uhr geschlagen. Fröstelnd zog Madeleine die Bettdecke näher an sich heran. Unwillkürlich griff ihre Hand wieder nach der Klingel, doch da erschien die Dienerin.
„Paulette, wieso dauert das so lange?“ fuhr Madeleine die Frau ärgerlich an.
„Seien Sie versichert, Mademoiselle la Duchesse, dass es nicht mehr lange dauern wird“, erwiderte Paulette mit einer Gelassenheit, die Madeleine überraschte.
„Natürlich dauert es nicht mehr lange, Sie sind ja wieder hier. Nun geben Sie schon her.“
Madeleine nahm die Tasse.
„Aber die Schokolade ist gar nicht richtig heiß! Was haben Sie denn die ganze Zeit über gemacht? Es muss doch möglich sein, in einer halben Stunde eine Tasse Schokolade aufzuwärmen.“
„Verzeihen Sie, Mademoiselle, das Feuer war beinahe aus. Ich musste es erst wieder anfachen.“ Paulette war die Ruhe selbst, denn durch das Küchenfenster hatte sie einen Lichtschein gesehen - den Feuerschein der Revolution, der sich nun auf das kleine Schloss zu bewegte.
„Was soll ich denn mit einer lauwarmen Schokolade? Mir ist auch ein wenig kalt.“
‚Dir wird gleich warm, du verzogene Göre!’ dachte Paulette, doch laut erwiderte sie: „Dann schlage ich vor, Sie gehen selbst in die Küche und machen sich am Herd zu schaffen. Sie dürfen selbst das Feuer machen, einen Kessel holen, ihn auf den Herd stellen und im Keller die Milch und die Schokolade holen. Schließlich sind Sie mit Ihren siebzehn Jahren alt genug dafür. Ich wette, Ihnen wird dann ganz warm sein.“
„Maman!“ schrie Madeleine aus Leibeskräften, doch statt der Mutter stürzte nun der Vater ins Zimmer seiner Tochter.
„Madeleine, wir müssen hier weg. Zieh dich an! Paulette, helfen Sie ihr!
„Aber gewiss doch, Euer Gnaden. Ich helfe mit Freuden.“
„Papa, ich kann nicht schlafen!“ rief Madeleine ihrem Vater hinterher, doch er war schon aus dem Zimmer geeilt. Da erschien ihre Mutter. Die Duchesse trug bereits ein Kleid, das sie für einfach und unauffällig hielt. Sogar auf die Rosshaarpolster für die Hüften und den Reifrock hatte sie verzichtet. „Madeleine, Kleines! Wir müssen weg. Los steh auf, schnell!"
Sie zog ihre Tochter aus dem Bett.
„Aber Maman, ich will nicht verreisen. Ich will schlafen.“
„Sie kommen!“ murmelte ihre Mutter dumpf und hielt Madeleine ein Kleid hin, das Madeleine jedoch ignorierte. Das Kleid fiel zu Boden.
„Wer kommt? Was ist denn los, wovon redet Ihr überhaupt?“
„Von der Revolution“, klärte Paulette nun die junge Herrin auf.
„Was ist das? Weshalb müssen wir weg, wenn die Revolution kommt?“
Die Duchesse seufzte. „Paulette, gehen Sie nach unten und packen Sie etwas zu Essen ein. Sie werden alle mitkommen.“
„Wenn die Revolution kommt, heißt das vielleicht, dass ich den Comte de Cochon nicht heiraten muss?“
„Sein Name ist Beauchamps!“ sagte die Mutter scharf.
„Aber er sieht aus wie ein Schwein und benimmt sich wie eines! Hast du mal gesehen, wie er mich immer anstarrt? Da wird mir übel!“
„Wenn wirklich kommt, was wir befürchten, wirst du liebend gerne seine Frau werden!“ wies die Duchesse ihre Tochter zurecht.
Madeleine sah Paulette hinterher, die mit ungewohnt energischen Schritten verschwand. „Sie war so sonderbar eben. Richtig aufsässig, diese Person! Papa sollte ein ernstes Wort mit ihr reden.“ Ärgerlich verschränkte Madeleine die Arme vor der Brust, ohne auf das Kleid zu achten, das ihre Mutter aus ihrem Schrank gezogen hatte und das nun auf dem Boden lag. Die Duchesse ging zur Tür, um auf den Korridor hinaus zu lauschen und kam wieder zurück ins Zimmer.
„Maman, lass uns noch einmal darüber reden. Der Comte ist mindestens hundert Jahre älter als ich. Ich will nicht...“
„Schnell, schnell, zieh dich an!“ trieb die Duchesse ihre Tochter an, dann lief sie zum Fenster.
Madeleine beobachtete verwirrt ihre Mutter. So nervös hatte sie sie noch nie erlebt. Was war nur los mit ihr? Sie wurde nicht einmal ärgerlich, als sie schon wieder davon anfing, den Comte nicht heiraten zu wollen.
„Papa hat jetzt anderes zu tun. Er und dein Bruder Jean Pierre sind schon unten und...“ Weiter kam die Duchesse nicht, denn unten auf der stets sauber geharkten Einfahrt leuchteten nun Fackeln und wütender Lärm scholl zu ihnen herauf ins obere Stockwerk. Dazwischen hörten sie die verzweifelten Schreie eines Mannes. Die Duchesse erstarrte am Fenster.
„Henri!“ schrie sie voller Todesangst; Madeleine eilte zu ihr.
„Papa? Was ist mit Papa?“
Madeleine wollte ans Fenster, doch die Duchesse packte sie und hielt sie in ihren Armen fest. „Nein, nicht hinsehen. Komm, schnell jetzt!“
Madeleine hatte ihre Mutter noch niemals so ängstlich gesehen. „Aber Maman, wo ist Jean Pierre? Wieso können er und Papa uns nicht beschützen? Wer sind diese Leute, was wollen sie von uns? Wir haben doch gar nichts getan.“ Doch die Mutter zog sie nur stumm davon, die Treppen hinunter.
„Wo sind die Diener? Sie sollten uns helfen!“ suchend blickte sich die Duchesse in der Halle um, in die das Licht der Fackeln wie eine Vorankündigung des höllischen Untergangs floss.
„Verzeihen Sie, Madame, aber wir helfen den anderen!“ sagte Claude der Kutscher und schlug der Duchesse einen Leuchter an die Schläfe. Sie taumelte kurz und brach zusammen.
„Maman!“ Madeleine traute ihren Augen kaum. Sie stürzte auf ihre Mutter, rüttelte sie, zerrte an ihrem Kleid und schrie. Als Claude ging, um der Revolution die Tür zu öffnen, brachte Madeleine sich hinter einem Vorhang in Sicherheit und beobachtete entsetzt, wie Menschen, die sie bisher nur von weitem gesehen hatte, in ihr Haus stürmten.
Oben auf der Treppe stand Paulette. Sie hatte sich bereits am Kleiderschrank ihrer Herrin bedient und wollte die Revolutionäre gebührend empfangen. Mit ausgebreiteten Armen stand sie da. „Kommt her, hier ist genug für alle!“
Die Meute trampelte über die tote Duchesse hinweg und stürmte hinauf zu Paulette, die einen seidenen Schal schwenkte. Die Revolutionäre sahen nur die fein gekleidete Dame, den seidenen Schal, ihr Lachen und fielen wütend über sie her. Vor wenigen Augenblicken, als ihre Mutter so schrecklich geschrien hatte, hatte Madeleine schon geglaubt, es könne keinen schrecklicheren Schrei geben, doch Paulettes Schrei schien das ganze Haus auszufüllen, so laut, so durchdringend war er. Ihr Schrei zerriss endgültig die Welt, in der Madeleine bisher gelebt hatte und schnitt tief in ihre Seele. Als sie sah, wie Paulettes nackte, blutüberströmte Leiche über das Geländer geworfen wurde und mit einem hässlichen Geräusch auf dem Marmorboden der Halle aufschlug, wurde Madeleine ohnmächtig.
Frauenzimmer Verlag, Ringweg 19, 35321 Laubach - Lauter, USt-ID-Nr.: DE214981935
Gestaltung der Seite: Anja Zimmer
Fotos: Frank Glabian, Hans-Dieter Haas, Markus Lappe und Anja Zimmer
Aktualisiert am 11.11.2024